Karla Paul, geboren am Tag des Buches 1983, studierte Betriebswirtschaftslehre und Mediendesign, ist Deutschlands erfolgreichste Buchbloggerin und für das Magazin NEON die „neue Literaturpäpstin“. Seit 2009 arbeitete die Wahl-Hamburgerin in leitenden Funktionen bei verschiedenen digitalen Literatur-Portalen, zuletzt als Verlagsleiterin bei Edel eBooks. Sie ist Botschafterin der „Stiftung Lesen” und gibt regelmäßig Buchtipps im ARD-Buffet. Ende 2017 hat Karla Paul ihre Anstellung beim Edel-Verlag aufgegeben, um sich den Büchern wieder freiberuflich widmen zu können.
Ich habe Karla Paul anlässlich einer Veranstaltung kennengelernt, an der sie als Podiumsgast teilnahm. Dort erzählte sie davon, wie die Buchbranche Online-Daten zum Leseverhalten von Usern sammelt – und wie diese Daten dazu genutzt werden, Literatur immer besser an die Bedürfnisse der Leserinnen und Leser anzupassen. „Irgendwann”, prophezeite Karla, „kriegt jeder das Romanende, das ihm gefällt.”
Ich war geradezu verstört. Ich habe offenbar sehr romantische, vor-digitale, womöglich naive Vorstellungen von Literatur. Dass ein Roman ein zu optimierendes Konsum-Produkt sein soll wie jedes andere – das klang für mich nicht nach Fortschritt, sondern eher nach einer Dystopie.
@Buchkolumne: Zukunft = Jeder kriegt das Romanende, das ihm gefällt. Ich denke: Wir kriegen die Zukunft, die wir verdienen. #MedienIdeenMacher— Julia Karnick (@JuliaKarnick) 6. Dezember 2017
Ich war aber auch neugierig geworden: Ich hatte bis dahin gar nichts über das so genannte Lese-Tracking gewusst. Wie genau funktioniert das? Wird es die Zukunft des Lesens wirklich nachhaltig verändern? Karla Paul war bereit, mir mehr dazu zu erzählen. Und so trafen wir – Karla, ihr Malteser Chilli und ich – uns an einem Dienstagmorgen in dem Hamburer Szene-Stadtteil, in dem sie wohnt, in einem sehr vollen, sehr lauten Café. Über das Thema „Happy End on demand“ haben wir dann aber doch erst eher zum Schluss geredet:
Julia Karnick: Bis vor kurzem hatte ich von Lese-Tracking noch nie gehört. Selbst diejenigen unter meinen Freundinnen, die – anders als ich – einen E-Reader nutzen, können mit diesem Begriff nichts anfangen. Kannst du erst mal erklären, was das ist?
Karla Paul: Nehmen wir als Beispiel den Kindle, das Lesegerät von Amazon: Der speichert nicht nur, welche Bücher man kauft und liest – was zugleich verrät, welche Autoren und Literatur-Genres man bevorzugt. Sondern auch, an welchem Tag zu welcher Uhrzeit man wie lange und wieviel gelesen hat. An welchen Stellen man das Lesen unterbricht oder das Buch ganz abbricht. Welche Zitate man markiert und welche Notizen man sich dazu macht.
Markieren ist das, was ich im gedruckten Buch „unterstreichen“ nenne?
Ja. Das Markieren ist eine Funktion, die gerade im Sachbuchbereich, etwa beim Lernen, sehr hilfreich ist. Aber auch bei belletristischen Büchern tun das sehr viele Menschen. All diese Informationen kann ich dann im persönlichen Archiv jederzeit abrufen. Aber auch Amazon hat Zugriff auf diese Daten. Wenn ich mit dem Kindle online bin, kann ich sehen, welche Stellen wie oft von anderen Nutzern markiert wurden.
Und was habe ich davon?
Ich kann mir die – aus Sicht der andereren Leser – wichtigsten oder schönsten Stellen in einem Buch anzeigen lassen, noch bevor ich es selbst gelesen habe. Außerdem kann ich mich auf der internationalen Amazon-Plattform Goodreads mit anderen Kindle-Nutzerinnen und -Nutzern austauschen zu einem Buch: das so genannte Social Reading.
Früher nannte man das Lesezirkel.
Nur dass das heutztage immer mehr online stattfindet. Goodreads hat Millionen Mitglieder weltweit. Es gibt aber noch alle möglichen anderen Plattformen – in Deutschland zum Beispiel LovelyBooks und Jellybooks. Dort hinterlassen die Nutzer nicht nur anonymisierte Daten, sondern geben alle möglichen personalisierten Informationen zu ihrem Leseverhalten preis. Gerade in Deutschland sind diese auf Social Reading-Plattformen gesammelten Daten für die Verlage sehr wertvoll.
Wieso?
Weil hier die Datenschutzgesetze viel strenger sind als in den USA. In Deutschland dürfen Daten nur anonymisiert gespeichert werden, wenn der User sie – wie bei der Nutzung des E-Readers – nicht bewusst und ausdrücklich weitergibt.
Aber genau das tun die, die ein Profil bei einer Social Reading-Plattform erstellen …
… indem sie in das Profil eintragen, wie alt sie sind. Ob Mann oder Frau, vielleicht sogar auch auch noch, ob sie Single oder verheiratet sind. Welche Art von Büchern sie am liebsten lesen. Oder sie verraten in Kommentaren, was ihnen gefällt an einem Buch und was nicht. So wird man Stück für Stück freiwillig, aber auch unfreiwillig zur gläsernen Leserin. Denn selbst wenn man eine Social Reading-Plattform wie Goodreads nur passiv nutzt, nie kommentiert, selbst bewertet oder irgendwas ankreuzt: Amazon verbindet mein Profil mit meiner kompletten Kindle-Kauf- und Lesestatistik. Für ein Unternehmen sind das wahnsinnig wichtige Daten. Nicht nur was Kaufempfehlungen angeht, sondern auch dazu, wie gut ein Buch inhaltlich ankommt.
Über Jellybooks können Testleserinnen Bücher vor der Veröffentlichung lesen und beurteilen. Andrew Rhomberg, einer der britischen Gründer, hat 2016 in einem Interview gesagt: Zumindest in der Belletristik hätten diese Datenerhebungen keinen Einfluss auf „Schreib- und Lektoratsprozesse”.
Aber was sonst wäre die Intention einer solchen Plattform? Wenn ein Verlag ein Buch von Testleserinnen prüfen lässt, tut er das natürlich, um herauszufinden, wie es die Leute finden – vom Cover angefangen bis zum Inhalt des Buches selbst.
Rhomberg behauptet, es ginge nur um die Optimierung des Marketings.
Das heißt im Klartext: Wenn das Buch bei den Testlesern nicht funktioniert, wenn zum Beispiel viele Leser nach 50 Seiten aussteigen, wird es keinen Marketing-Etat dafür geben. Und dann auch kein zweites Buch. Und natürlich werden diese Daten auch Inhalte beeinflussen. Beispiel: Die Datenanaylse ergibt, dass eine erotische Szene besonders langsam oder häufig, also offenbar sehr gerne gelesen wird.
„Wenn eine bestimmte Heldin oft markiert wird, taucht sie im nächsten Buch sicher wieder auf”
Diese Information wird an den Autor oder die Autorin weitergegeben, damit sie beim Schreiben des nächsten Buches berücksichtigt werden kann. Oder: Es werden besonders oft Stellen im Buch markiert, in denen eine bestimmte Heldin auftritt. Diese Figur wird sicher im nächsten Roman der Autorin wieder vorkommen.
Und die literarische Optimierungs-Steigerung ist dann: Man kann sich sein Roman-Ende selbst aussuchen?
Ja, solch personalisiertes Lesen ist technisch möglich. Warum auch nicht?
Weil Literatur – zumindest meinem Ideal nach – über den eigenen Tellerrand hinausführt, einem auch mal etwas zumutet, einen etwas Neues lehrt, statt die eigene kleine Welt zu zementieren.
Aber die Art von Entspannungsromanen, über die wir hier gerade reden, ist doch nur eine Ergänzung zur so genannten Feuilleton-Literatur. Klar, es gibt Bücher, die einen wahnsinnig fordern, die auch ich nicht am Stück lesen kann. Die sich nach mehreren Tagen noch weiterentwickeln in meinem Kopf, die mein Denken, meine Moral, mich verändern. Und die soll und wird es auch immer weiter geben. Aber dann gibt es ja nun mal auch die reine Genusslektüre. Das, was ich lese, wenn ich am Strand oder nach einem langen, anstrengenden Arbeistag auf dem Sofa liege, zwei Stunden meine Ruhe haben und etwas fürs Herz haben will. Das eine wird das andere nicht verdrängen.
Trotzdem finde ich es eine befremdliche Vorstellung, dass Bücher an die individuellen Wünsche ihrer Leser angepasst werden.
Das ist aber nun mal der Trend, siehe Netflix und Co: Die versuchen doch auch, jedes Fernseh-Bedürfnis passgenau zu befriedigen – statt nur eine Möglichkeit anzubieten, mit der sich dann alle begnügen müssen.
Karla Paul: ”Schon jetzt lesen wir ja alle was anderes, auch wenn wir das gleiche Buch lesen”
Außerdem: Schon jetzt lesen wir ja alle was anderes, auch wenn wir das gleiche Buch lesen. Weil nämlich jede Leserin etwas anderes empfindet dabei, weil wir unterschiedliche Charaktere toll finden, weil wir eben alle unterschiedlich sind.
Und wie sähe das dann konkret aus, das personalisierte Lesen?
Man könnte sagen: Wir haben einen Liebesroman, und in diesem Roman gibt es drei Männer, die am Ende das Herz der Protagonistin erobern könnten. Such dir den aus, in den du dich selbst verlieben würdest, mit dem gibt’s dann ein Happy End. Oder die Leserin kann sich aussuchen, wie die Protagonisten heißen. So kann sie sich besser mit ihnen identifizieren. Man könnte also jedem Leserin über die Geschichte mitentscheiden lassen und ihr einen Roman zur Verfügung stellen, der genau auf ihre Bedürfnisse zugeschnitten ist.
Und so als Verlag dann möglicherweise das ideal verkäufliche Buch schreiben lassen?
Ja, wobei man schon ganz klar sagen muss: „Ideal verkäuflich“ bedeutet nicht unbedingt, das mit der besten literarischen Qualität.
Du hast auch auf der von mir besuchten Veranstaltung gesagt, deine Erfahrung aus fast zehn Jahren in der digitalen Buchbranche sei: „Die Menschen wollen keine Qualität“.
Damit meinte ich: Die Masse will keine Qualität, sie will Genuss. An sich ist das ja nichts Neues. Wir sehen das ja auch beim TV-Programm, im Kino, an den Bestseller-Listen.
Es gibt ja durchaus sehr gut geschriebene Unterhaltungsliteratur, Krimis, Thriller oder Liebesromane.
Aber „gut” ist für jede Leserin etwas anderes, und vielen ist eben selbst so ein guter Krimi schon zu viel. Die wollen etwas ganz, ganz Einfaches lesen – vielleicht weil sie überfordert sind mit der aktuellen Weltlage oder ihnen ihr eigener Alltag viel zu viel ist. Zumindest das, was ich im Verlagsbereich erlebt habe, weist leider darauf hin, dass es im Massenmarkt qualitativ eher nach unten geht.
Kannst du „unten“ näher verorten?
Es gibt zum Beispiel den sehr großen Trend zur so genannten Heftchenliteratur. Das ist das, was im Supermarkt oder am Kiosk „Lore-Roman“ heißt. Digital ist das wahnsinnig auf dem Vormarsch: Diese Geschichten erscheinen im Abo, haben jeweils 50 bis 100 Seiten und hängen inhaltlich miteinander zusammen. Wie eine Vorabendserie. Daraus kann man am Ende dann einen ganzen Roman machen und als richtges Buch in den Laden stellen. Davon gibt es immer mehr.
Wird der Trend zur billig produzierten Buchmassenware dazu führen, dass die Verlage nach und nach immer weniger anspruchsvolle Literatur verlegen?
Die meisten Menschen in der Literaturbranche versuchen, mit den massentauglichen Büchern viel Kohle rein zuholen, um wenigstens zwei bis drei Titel im Jahr zu veröffentlichen, von denen sie denken: Diese Bücher bringen vielleicht keinen Gewinn, aber wir finden sie so gut und wichtig, dass wir sie trotzdem verlegen. Und ab und zu, wenn Kritiker und Buchhändler es empfehlen, schafft es dann ja auch mal so ein Buch auf die Bestseller-Listen. Ich denke, das wird auch immer so bleiben. Auch weil es in Deutschland noch so viele Kleinverlage gibt. Und dank des Internets ja inzwischen auch die Möglichkeit, als Autor selbst zu veröffentlichen.
Ich habe auf boersenblatt.net gelesen, unter den großen deutschen Buchverlagen gibt es fünf, die mit Jellybooks zusammenarbeiten. Das weiß aber kaum jemand, weil sie nur ungern über ihre digitalen Aktivitäten reden. [Richtigstellung: Nach Angaben von Jellybooks sind es inzwischen zehn deutsche Verlage, Tendenz steigend.]
Kein Unternehmen gibt gerne zu, dass es Nutzerdaten sammelt. Das ist ja ganz verpönt. Und gerade Kulturmenschen haben oft ein Problem mit Konsum und Marketing und allem, was mit Geldverdienen zu tun hat, da gibt es schnell einen richtigen Aufschrei. Ich dagegen glaube, es ist besser, offen darüber zu reden, die Menschen aufzuklären darüber, was mit ihren Daten geschieht. Damit sie sie dann wirklich freiwillig hergeben.
Wenn ich einen E-Reader benutzen möchte, aber meine Daten nicht an Amazon geben will: Welches Lesegerät empfiehlst du?
Eine Alternative ist der Tolino-Reader, der gemeinsam von Thalia und anderen deutschen Großbuchhandlungen ver- und betrieben wird. Weil Tolino ein Unternehmen mit Sitz in Deutschland ist, kann man zumindest sicher sein: Daten, die der E-Reader sammelt, werden nur anonymisiert gespeichert. Auf alle Fälle lohnt es sich, als Nutzer eines E-Readers die Datenschutzerklärung tatsächlich ab und zu durchzulesen. Und wer hundertprozentig sicher sein will, beim Lesen keinerlei Datenspuren zu hinterlassen: Der sollte beim gedruckten Buch bleiben.
Zum Weiterlesen:
- Stuttgarter Zeitung, März 2016: „Das schnüffelnde Buch”
- Was genau macht Jellybooks? Englischsprachiges Interview mit Andrew Rhomberg vom Juli 2017
- Spiegel.de, November 2017 (€): Social Writing-Plattformen wie Wattpad – dort ist „Fifty Shakes of Grey” entstanden – können aus Hobby-Autorinnen Stars mit Millionenpublikum machen.
© Porträt Karla Paul und Chilli: Raimund Verspohl
Ich weiß nun, warum ich keinen E-Reader habe. Obwohl ich für Fachbücher, ganz kurz dachte, dass es gut sein könnte, wegen der Möglichkeit des Markierens wie oben beschrieben. Nun, meine Fachbücher sehen nach dem Lesen immer aus wie S………., so ist das und eigentlich mag ich das. Ich bleibe bei Papier. Ich mag das einfach.
Die Marke und das Produkt Tolino werden zwar noch für den deutschsprachigen Markt in Deutschland vertrieben und im Service unterstützt, doch das Unternehmen wurde bereits vor einem Jahr von der japanisch-kanadischen Unternehmensgruppe Rakuten Kobo übernommen. Tolino Lesegeräte sollen zukünftig auf der Plattform der Kobo Reader entwickelt werden.
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