Am Hamburger Elbstrand stehen Warnschilder, wie ich sie nirgendwo anders auf der Welt sah: Sie zeigen den Bug eines Schiffes, eine Welle und ein Männchen, das vor der Welle flieht, und was die Schilder sagen sollen, ist wohl dies: „Achtung, Elbwanderer, hüte dich vor großen Schiffen, denn große Schiffe machen große Wellen, und große Wellen machen nass!”
Der Anblick der Schilder versetzt mich jedes Mal in feierliche Stimmung: In einem Land zu leben, in dem sich Behörden dafür verantwortlich fühlen, einen vor der Heimtücke hinterrücks heranrollender Bugwellen zu warnen, ist ein großes, zu guter Laune und Zuversicht verpflichtendes Glück. „Du bist Deutschland!”, denke ich, wenn ich eines der Schilder sehe, „Du bist Deutschland!”, dachte ich, als ich die Duden-Sprachberatung anrief: Es gibt nicht viele Orte auf dieser Welt, an denen nicht nur niemand nasse Füße bekommen muss, sondern auch noch jeder, der 1,99 Euro pro Minute zu zahlen bereit ist, vom Sofa aus sprachwissenschaftliche Fragen klären kann.
Zwischen den Jahren benimmt sich das Leben anders als sonst,
nämlich so, als stünde es still.
Das ist ja sonst nicht so seine Art
Lange habe ich gerätselt, warum man die Tage zwischen Weihnachten und Neujahr die Zeit „zwischen den Jahren” nennt, wo doch jeder weiß, dass es diese Zeit gar nicht gibt. Dann hatte ich den Einfall mit der Sprachberatung. „Einen Augenblick, bitte”, sagte die Dudendame: „Die Redewendung nimmt Bezug darauf, dass Neujahr früher, je nach Region und Zeitalter, am 25. 12., 1. oder 6. 1. gefeiert wurde. Erst seit dem 17. Jahrhundert kristallisierte sich der 1. Januar als offizieller Jahresbeginn mit allgemeiner Verbindlichkeit heraus.“ Das ist die historische Erklärung.
Meine eigene Erklärung ist diese: Vom Gefühl her ist Weihnachten die Ziellinie. Man hat auf den letzten Metern des Jahres, während der Festvorbereitungen, noch einmal alles gegeben, dann lässt man sich fallen. Der nächste Lauf wird erst am 1. Januar angepfiffen, und so bleibt nichts zu tun, als dem Christbaum beim Nadeln zuzuschauen und Reste essend darauf zu warten, dass alles von vorn losgeht: Keine neuen Projekte wird man bis dahin beginnen, höchstens Schubladen aufräumen, alte E-Mails löschen oder Möbel hin und her rücken. Zwischen den Jahren benimmt sich das Leben anders als sonst, nämlich so, als stünde es still. Das ist ja sonst nicht so seine Art, meist vergeht es ja schneller, als man fühlen kann.
Freiheit ist die Zeit,
in der wir etwas hinter uns gelassen haben,
ohne woanders angekommen zu sein
Was zwischen einem Ende und einem Anfang liegt, nennt sich Freiheit, deshalb gehören die Augenblicke, in denen wir etwas hinter uns gelassen haben, ohne woanders angekommen zu sein, zu den ganz besonderen: die Zeit zwischen dem letzten Schul- und dem ersten Unitag, der Resturlaub nach dem letzten und vor dem nächsten Job, die letzten Wochen vor der Geburt des ersten Kindes. Nachdem ich mit Anfang zwanzig meines heutigen Mannes wegen meinen damaligen Freund verlassen hatte, bin ich nach Hause gefahren, habe mich aufs Bett gelegt und Löcher in die Luft gestarrt, nur so – nur um wenigstens drei Stunden Ungebundenheit zwischen zwei Lieben herauszuschinden.
Manchmal, wenn ich spät nachts heimkehre, setze ich mich in die Küche, mache Musik an und luchse dem Leben zehn Minuten zwischen den Tagen ab, in denen ich nichts anderes tue, als aus dem Fenster zu schauen und herauszufinden, wie es sich gerade anfühlt, dieses Leben. Immerhin. Besser als nichts. Aber lange nicht so gut wie die Zeit zwischen den Jahren.
Text: Brigitte 26/2005
Optik: Canva
Liebe Julia, danke für deine Gedanken, die es auf den Punkt bringen.
Ich liebe die Zeit zwischen den Jahren, denn da sind ALLE irgendwie still und lahm und es ist gut so.
Herzliche Grüße vom Zürichsee und guten Rutsch. Petra
Liebe Petra,
Autorinund vor dir habe ich nun gelernt, dass es Pingbacks gibt! Aber: Wie funktioniert das?
Dir auch einen guten Rutsch und ein glückliches neues Jahr.
Liebe Grüße,
Julia
Pingback: Die nachberufliche Phase: wie zwischen den Jahren | Wesentlich werden
Liebe Julia Karnick,
heute Nacht begann wieder „Die Zeit zwischen den Jahren“., die 12 Rauhnächte, oder auch Rauch(Räucher)nächte. Der Endpunkt ist der 6. Januar, der Dreikönigstag, an dem auf dem Land durch die Räume des Hauses und die Ställe rauchende Kräuter getragen wurden, ein Reinigungsritual. Im Netz ist einiges darüber zu lesen. Inzwischen wird das Räuchen auch vom Feng shui aufgegriffen.
Wahrscheinlich geht die Bezeichnung auf den Julianischen Kalender zurück, als 46 v. Chr. das Sonnenjahr das Mondjahr ablöste Wahrscheinlich sind Sie aber längst selbst fündig geworden und ich trage Eulen nach Athen.
Ein erholsame Zeit zwischen den Jahren wünscht Ihen
Nila Sebastian
Berlin