Als mein Sohn neugeboren in meinen Armen lag, sprach ich: „Vielleicht wirst du eines Tages rosafarbene Krawatten und einen Siegelring tragen, vielleicht wirst du Anhänger einer abseitigen Ernährungslehre oder Börsenmakler, vielleicht wirst du Edmund Stoibers Enkelin heiraten – komme, was da wolle, ich werde dich bedingungslos lieben. Nur eines darf nicht geschehen: dass du nicht gern liest.“ Ich selbst konnte mit fünf lesen.
Mit 13 las ich tagsüber in jeder freien Minute und nachts mit der Taschenlampe unter der Decke. Mit 16 verliebte ich mich in D., weil er einen Motorroller besaß, und entliebte mich sofort wieder, als ich feststellte, dass er nur zwei Bücher besaß: einen Bildband zur Fußball-WM 1982 und „Joy of Sex“. Mit 27 heiratete ich einen Mann, mit dem ich mich beim ersten Date über die Romane Simone de Beauvoirs unterhalten hatte und der mir zu jedem Geburtstag mindestens drei Bücher schenkt.
Vorzulesen bringt nicht immer Spaß. Vor allem dann nicht, wenn man 14-mal nacheinander „Ich habe einen Freund, der ist Müllmann“ lesen muss, wir taten es trotzdem
Mein Sohn wuchs. Kaum konnte er greifen, förderten wir die sinnliche Annäherung an das Medium Buch, indem wir ihm Babybücher aus dicker Pappe hinhielten, die er in den Mund nahm und zu Pappmaché verarbeitete. Kaum konnte er sitzen, begannen wir, die Bücher mit ihm anzuschauen. Kaum konnte er still sitzen, begannen wir, Abend für Abend vorzulesen – das bringt nicht immer Spaß, vor allem dann nicht, wenn man 14-mal nacheinander „Ich habe einen Freund, der ist Müllmann“ lesen muss, wir taten es trotzdem. Um nicht immer das Gleiche lesen zu müssen, begann mein Mann, selbst erfundene Geschichten zu erzählen – ein väterliches Rollenvorbild, in dem die Liebe zur Belletristik und die Fähigkeit, Motorräder zu reparieren, mühelos miteinander verschmolzen.
Wir stellten ein prall gefülltes Bücherregal ins Kinderzimmer, überall in unserer Wohnung liegen und stehen Bücher herum, auf langen Autofahrten hören wir gemeinsam Hörbücher, verdammt noch mal, wir haben alles richtig gemacht, was man laut Empfehlung der „Stiftung Lesen“ richtig machen kann, aber: Unser Sohn liest nicht gern. Wir haben alle Tricks ausprobiert, um ihn zum Lesen zu bewegen, der einzige, der ab und zu funktioniert, ist der, ihn abends zu früh ins Bett zu schicken, zu sagen „Und jetzt mach das Licht aus“ – und dann gnädig hinzuzufügen: „Oder, meinetwegen, lies noch ein bisschen.“ Nur Schlafen ist nach Ansicht meines Sohnes noch langweiliger als Lesen, darum liest er, wenn er liest, im Bett. Manchmal. Manchmal guckt er auch lieber an die Zimmerdecke.
Lesen gehört für unseren Sohn in die gleiche Kategorie lästiger Notwendigkeiten wie Obstessen: Muss man ab und zu machen, damit die arme Alte keinen Nervenzusammenbruch bekommt
Manchmal sagt mein Sohn: „Voll öde, was soll ich ’n jetzt mal machen?“ Früher schlug ich vor: „Wie wär’s mit Lesen? Mach’s dir gemütlich, hier hast du ein paar Kekse . . . „, woraufhin unser Sohn schwer seufzte. Dann fiel mir auf, dass ich dieses schwere Seufzen aus anderen alltäglichen Zusammenhängen kenne. Es erklingt zum Beispiel dann, wenn unser Sohn sagt: „Ich habe Hunger“ oder „Ich geh raus“, und ich antworte: „Dann iss einen Apfel“ oder „Aber um sieben bist du zu Hause“. Lesen gehört für unseren Sohn in die gleiche Kategorie lästiger Notwendigkeiten wie Obstessen und Pünktlichsein: Muss man ab und zu machen, damit die arme Alte keinen Nervenzusammenbruch bekommt.
Ich habe es vermasselt. Ich wollte es gut machen, ich habe es zu sehr gewollt und zu gut gemacht. Was soll nur aus dem Jungen werden? Ich ahne: Die einzige Chance, seine Lesebegeisterung doch noch zu wecken, ist die, einen Bildband zur Fußball-WM 2006 und „More Joy of Sex“ zu kaufen, die Bücher im Schrank zu verstecken und einen Zettel dazuzulegen: „Achtung, Lesen streng verboten!“ Aber so weit bin ich einfach noch nicht.
Text: Brigitte 24/2008
Wie ist das denn nun mittlerweile mit dem Sohn und dem Lesen? Gibt es einen Hoffnungsschimmer, dass das doch noch kommt? Herzlich, eine Mutter, deren Sohn auch nicht gerne liest, obwohl wir das auch alles gemacht haben oder auch noch machen…
Liebe Carolin,
Autorinmeinerseits leider kein Hoffnungsschimmer zu haben: Nein, es hat sich eigentlich nichts geändert, der Sohn liest nicht gerne Bücher.
Wie wäre es denn, den Sohn einfach Comics oder Mangas lesen zu lassen, oder interessiert ihn auch sowas nicht?
Nein, auch Comics und Mangas haben ihn nicht sonderlich interessiert – und “lesen lasssen” ist ja immer eine schwierige Sache, erst recht ab bestimmten Alter. Aber der Sohn ist ja inzwischen 21 und ausgezogen, insofern sind wir ohnehin längst aus der Verantwortung. LG
AutorinDie „feel-good“-Kolumne für mich als gelernte Buchhändlerin mit bibliophoben Söhnen.
Perfekter Zeitpunkt zum „re-reading“, wenn am Ende der Ferien noch so viel Pflichtlektüre übrig ist. Ich atme, die Jungs stöhnen. Alles wie immer.
herrlich
ich erkenne mich wieder… zu viel gewollt – und das gegenteil kommt dabei raus
(bei uns ging es um musik)
Pingback: Linktipps #21 - Meine Blogfunde im Dezember und Januar - Mama geht online