Allein in meinem engeren Familienkreis gibt es zwei, die im Krankenhaus arbeiten, und drei Hochbetagte, davon zwei in den Neunzigern. Ab 30. Juli diesen Jahres gehöre auch ich zur Altersgruppe „50 – 59”, also zu denen, die laut derzeit verfügbaren Mortalitäts-Statistiken einer Corona-Infektion deutlich weniger gelassen entgegensehen können als die Vierzig- oder Vierzehnjährigen. Mein Mann ist bereits Mitte Fünfzig, wir beide sind langjährige Ex-Raucher. Eine meiner engsten und liebsten Freundinnen hat eine chronische Autoimmunerkrankung, eine andere hatte Krebs.
Ich schreibe das, weil ich vorsorglich klarstellen möchte:
Ich bin nicht dumm oder naiv, ich weiß, ich habe keinerlei Grund, mich und die Meinen in Sicherheit zu wiegen. Ich habe sehr viele Gründe, auch Angst zu haben vor Corona.
Aber: Anders als so viele andere um mich herum kann ich sie nicht richtig fühlen, diese Angst – die Angst vor Ansteckung, Krankheit und Tod durch das Corona-Virus.
Ich gehöre zu denen, die mehr Angst vor den Folgen des Corona-Virus haben als vor dem Virus selbst
Sie ist eher in meinem Verstand als in meinem Herzen, eher theoretisch als praktisch, sie ist eher Sorge, Respekt als Panik. Dass ich so ticke ist kein Verdienst, kein Willensakt, keine Show, kein Leichtsinn, auf den ich stolz bin. Es ist einfach so. Ich bin so. Bin ich fatalistisch, verdrängend, risikoverliebt oder einfach voller Urvertrauen? Keine Ahnung.
Und jetzt oute ich mich, weil ich es wichtig finde, dass wir endlich miteinander ins Gespräch kommen und zwar in ein respektvolles, sachliches, vorwurfsloses, aneinander interessiertes Gespräch:
Ich bin eine von den Bösen.
Ich gehöre zu denen, die mehr Angst vor den Folgen des Corona-Virus haben als vor dem Virus selbst.
Ich habe Angst vor der Rezession, die uns bevorsteht, und davor, dass sie schwer wird, vor nationaler Abschottung und einer Weltwirtschaftskrise, vor den gesellschaftlichen und vor den psychosozialen Folgen. Ich habe Angst um die Zukunft unserer Demokratie, tatsächlich, auch wenn das viele albern finden.
Ich habe Angst vor denen, die diese Angst nicht teilen oder sie wenigstens zu verstehen versuchen, bevor sie sie verurteilen.
Ich habe Angst vor denen, für die ich eine empathielose, neoliberale, egozentrische Oma-Mörderin bin, weil ich finde, dass über Verhältnismäßigkeiten debattiert werden muss, über Grundrechte und darüber, ob staatliche Maßnahmen wie die Kontaktsperre verfassungskonform sind.
Diese Angst kann ich fühlen, sie ist in meinem Herzen, sie kommt mir wirklicher und bedrohlicher vor als die andere, als eure Angst.
„Aber du denkst doch nicht ernsthaft, dass Angela Merkel eine Diktatur errichten will?”, fragte mich jemand aus meinem persönlichen Umfeld, mit dem ich mich vor zwei Wochen sehr kontrovers über dieses Thema diskutierte – man könnte es auch streiten nennen.
Über diesen Jemand hatte ich mich aufgeregt, weil er eine Ausgangssperre meiner Wahrnehmung nach geradezu herbeisehnte, und dieses Sehnen erfüllte mich mit Wut, fast Grauen.
Ich verstand nicht, wie man wild auf ein staatliches Ausgehverbot sein kann. Erst recht verstand ich nicht, dass man es richtig und wichtig finden kann, nicht laut und lang zu streiten über eine so drastische Einschränkung der Freiheitsrechte, dass man finden kann: „Schluss mit den Diskussionen, das muss jetzt halt sein, wenn die Leute nicht vernünftig sind!”
Nein, ich denke natürlich nicht, dass uns gerade eine Diktatur droht.
Mein Eindruck: Die Menschen hier und anderswo
müssen nur genug Angst haben,
dann sind sie ratzfatz bereit,alle ihre Grundrechte aufzugeben
Welcher Gedanke mich aber so beständig verfolgt wie die Mehrheit der Wunsch nach noch mehr Vorbeugung und Sicherheit:
Falls demnächst doch mal der oder die Falsche an die Macht kommt, dann wird es für sie ein Leichtes sein, eine Diktatur zu errichten. Mein Eindruck ist: Die Menschen hier und anderswo müssen nur genug Angst haben um ihre Gesundheit und ihr Leben und das Leben ihrer Liebsten, dann sind sie nicht nur ratzfatz bereit, alle ihre Grundrechte zugunsten ihrer Sicherheit, sprich ihres Überlebens aufzugeben.
Sie sind darüber hinaus auch noch bereit, und das beunruhigt mich noch mehr, öffentliche Kritiker dieser Grundrechtsbeschneidungen pauschal als Verräter am Gemeinwohl zu stigmatisieren, als Menschen, denen die eigenen privaten, ökonomischen oder politischen Interessen wichtiger sind als das gesundheitliche Wohl der Gemeinschaft – also quasi als „Volksschädlinge”.
Sie sind bereit, alles zu glauben, was die Regierenden sie zu ihrer Beruhigung glauben lassen wollen, zum Beispiel: „Diese Krise wird keinen einzigen Arbeitsplatz kosten” oder „Wir werden allen helfen, die in Not geraten.”
Sie sind bereit, dem Staat so bereitwillig zu vertrauen, dass er schon für sie sorgen wird, als wäre er tatsächlich ein guter Vater. Dabei sind der Staat doch wir alle, und wenn zu viele von uns bedürftig werden, kann irgendwann für niemanden mehr gesorgt werden.
Immer mehr sind neuerdings auch bereit, jene Mitmenschen zu verachten, zu hassen oder sogar zu denunzieren, die sich den Regeln – aus welchen Gründen auch immer – nicht beugen.
Und sie sind bereit, sich selbst zu belügen und wieder und wieder zu verkünden, kein Preis sei zu hoch, wenn es darum ginge, Leben zu retten.
Dabei widerlegt unsere Gesellschaft diese Behauptung doch tagtäglich. Wir lassen Geflüchtete ertrinken und in Lagern verrotten, weil wir glauben, der ökonomische und gesellschaftliche Preis für ihre Rettung würde uns zu teuer zu stehen kommen.
Wären wir alle willens,
40 Prozent Krankenkassenbeitrag zu bezahlen, könnten sicherlich mehr Leben gerettet werden als zur Zeit. Sind wir aber nicht
Und wenn die Expertengremien hierzulande entscheiden, welche Therapien auch gegen tödliche Krankheiten zugelassen und von der Krankenkasse übernommen werden, spielt selbstverständlich der ökonomische Faktor eine Rolle – nur dass diese Entscheidungen meist und aus gutem Grund hinter verschlossenen Türen stattfinden: Wären wir alle willens, ab morgen 40 Prozent Krankenkassenbeitrag zu bezahlen, es könnten sicherlich bald mehr Leben gerettet werden als zur Zeit. Sind wir aber nicht.
Aber das eine wie das andere verdrängen wir, weil wir so gerne gute Menschen sein und bleiben wollen. Weil es schmerzhaft ist, sich einzugestehen: Wir sind gar nicht so edel, wie wir gerne wären, sondern vor allem egozentrisch – und schon immer, auch schon vor Corona haben ökonomische Interessen über Leben und Sterben Einzelner mit entschieden, und nach Corona wird das wieder so sein.
Das alles, das macht MIR Angst.
„Das sind eben deine Ängste”, sagte der Jemand, mit dem ich über die von mir gefürchtete, von ihm begrüßte Ausgangssperre stritt: „Und ich habe nun mal mehr Angst vor dem Virus, der ganz Rest wird schon irgendwie werden, daran glaube ich fest. Warum soll deine Angst mehr zählen als meine?”
Ich dachte über diese Frage nach. Ich kam zu dem Schluss: Stimmt, mit diesem Einwand hatte der Jemand sehr, sehr Recht.
Meine Angst vor den Folgen der Corona-Bekämpfung und dem gesellschafts-ökonomischen Kollaps ist nicht besser oder wichtiger als die Angst vor Corona und dem Kollaps des Gesundheitssystems.
Wir könnten die Verschiedenheit unserer Angst-Talente dazu nutzen, gegenseitig aufeinander aufzupassen.
Nach weiterem Nachdenken bin ich jedoch auch der Meinung: Die Angst vor Corona und dem Kollaps des Gesundheitssystems ist nicht besser oder wichtiger als die Angst vor den Folgen der Corona-Bekämpfung und dem gesellschafts-ökonomischen Kollaps.
Beide Ängste sind gleich richtig und gleich wichtig, zu dieser Überzeugung bin ich nach sehr langem Nachdenken gekommen. Und das bedeutet für mich: Statt unsere Ängste gegeneinander aufzuhetzen, sollten wir sie einander zugestehen – und uns klar machen, dass es gut ist, dass wir diese ganz verschiedenen Ängste haben.
Denn wir können diese Verschiedenheit, die Verschiedenheit unserer Angst-Talente, dazu nutzen, gegenseitig aufeinander aufzupassen.
Liebe Mundschutz-Ausgangssperre-Abstandseinhaltungskontroll-Fans,
ich gebe zu: Gäbe es nur Menschen wie mich, die sich mehr um ihre Grundrechte als um ihre Gesundheit sorgen, das wäre sehr, sehr gefährlich für uns alle. Ohne eure Vernunft, eure Vorausschau und Vorsicht, eure Ermahnungen, eure Durchhalteparolen, eure Disziplin säßen am kommenden Wochenende vermutlich Hunderttausende draußen und würden das deutsche Gesundheitssystem und zigtausende Leben grillend in den Untergrund feiern.
Danke, ihr und eure Angst seid so wichtig für uns alle.
Aber, liebe Mundschutz-Ausgangssperre-Abstandseinhaltungskontroll-Fans,
ich bitte euch zu bedenken: Gäbe es ausschließlich Menschen wie euch, die sich angesichts einer großen Bedrohung vor allem um unsere Gesundheit und etwas weniger um unsere Grundrechte sorgen, das wäre sehr wahrscheinlich auch nicht so super, wie ihr euch das gerade ausmalt.
Mein Vorschlag: Ihr beschützt die Verletzlichkeit des Lebens.
Wir anderen beschützen die Verletzlichkeit der Demokratie
Ohne die, die sich trauen, sich öffentlich gegen den panischen Mainstream zu stellen, ohne die, die einen Shitstorm riskieren, um euch daran zu erinnern, dass es auch noch andere Werte gibt als das schiere Überleben, ohne deren Bereitschaft, die Maßnahmen der Mächtigen immer wieder pingelig zu hinterfragen und darauf hinzuweisen, dass die Notwendigkeit schnellen Handels die Gefahr falscher Entscheidungen und Entwicklungen immer erhöht – ohne solche Menschen würden wir eines zukünftigen Tages, bei einer noch schrecklicheren Bedrohung vielleicht doch verlieren, was das Leben besonders lebenswert macht: unsere Freiheit.
Mein Vorschlag zur Güte ist also, dass jeder macht, was er am besten kann. Ihr beschützt die Verletzlichkeit des Lebens. Wir anderen, die wir offenbar etwas weniger Angst vor dem Tod haben als ihr, beschützen die Verletzlichkeit der Demokratie.
Das fände ich eine sinnvolle, konstruktive Arbeitsteilung.
Nein, ich glaube nicht, dass Corona harmloser ist als die Grippe. Ja, ich halte mich an die Kontaktsperre, weil ich ihr bei aller Skepsis einen Sinn geben möchte, und ich bin unbedingt dafür, dass wir alle das tun. Ich habe sogar schon darüber nachgedacht, auch mal Mundschutz zu tragen, aber nur, falls ich einen aus Snoopie-Stoff finde.
Puh.
Ich weiß doch auch nicht, was richtig und was falsch, ist, und ich habe den Eindruck, dass das auch sehr viele der Verantwortlichen auch nicht so ganz genau wissen. Ich nehme ihnen das nicht sonderlich übel, die sind ja auch nur Menschen. Ich habe vermutlich – wie so viele – tausend Mal mehr Fragen als Antworten.
Die möchte ich stellen dürfen, ohne dass mir Menschenverachtung vorgeworfen wird.
Photo by Micaela Parente on Unsplash
Liebe Frau Karnick,
wenn man so will, gehöre auch ich zu den Bösen, weil ich mit 84 noch in die Markthallle gehe, wenn es nicht so voll ist, auch mal bei Aldi reinhusche. Mein Mann wird am 7.7. 70 Jahre wird. (Schöne Zahlenreihe, oder? Zumal 21 meine Lieblingszahl ist.) Eigentlich dürfte er nicht mehr einkaufen gehen. Mein einer Sohn wohnt am anderen Ende der Stadt, der andere arbeit bei einer Baufirma) Wir sind beide ohne Erkältung durch den Winter gekommen, scheinen also ein gutes Immunsystem zu haben. Ich bin gelassen und habe keine Angst, auch nicht vorm Sterben. Obwohl ich noch Freude am Leben habe. Unklar ist mir wie es weitergeht, was allein an Elend auf viele Menschen zukommt, weil die Reisebranche wohl völlig einbricht. Wenn man bedenkt, wie sehr allen Redens über den Klimawandel der Flugverkehr z.B. in Berlin boomte. Die Tatsache, dass nur noch 5 % der Starts und Landungen stattfinden, ist eine harte Zäsur. Unserer beiden Ängste können also nicht reziprok wirken. Vielleicht ist all das, was ich schreibe belanglos, Sie sollen aber wissen, dass Ihr Text gelesen wird.
Herzliche Grüße aus Berlin
Nila Sebastian
(Falls sie Zeit übrig haben, lesen Sie mal Biografienforum.de
Liebe Frau Karnick,
Ich habe noch nie etwas kommentiert, aber jetzt muss es sein. Genau das habe ich auch gedacht, wie schnell waren alle bereit ins Ausgangssperreverbot zu folgen. Das war in dem Moment auch gut und richtig, aber ich habe mich auch gefragt, folgen alle ebenso schnell auch einer anderen Aufforderung , wenn dafür „ gute „ Gründe genannt werden? Ich bin in der DDR aufgewachsen, wohne immer noch in der Nähe meiner Heimatstadt und die Demokratie muss beschützt werden und nur verschiedene Meinungen und Ansichten gegeneinander abgewogen führen zum Erfolg.
Das soll es gewesen sein obwohl man durch Corona über vieles weitere nachdenken und reden könnte und müßte.
Viele Grüße von noch einer mit Urvertrauen
Claudia Lange
PS: Muss ich doch glatt das Buch mit ihren Brigitte-Kolumnen wieder hervorsuchen, die fand ich schon immer treffend und hab sie geliebt.