Es ist schlimm.
Es ist wirklich, wirklich schlimm.
„Es ist, als würde man ertrinken, bei vollem Bewusstsein. Das stand heute im Internet”, sagt Renate.
„Das steht schon lange im Internet.” Während ich mit Renate telefoniere, wische ich die hellgraue Küchenarbeitsplatte mit dem dunkelgrauen Küchenlappen ab.
Für meine Töchter ist Renate „Opas Freundin”.
Für meine Schwester ist Renate „Papas spätes Glück”.
Für meinen Vater ist Renate seine „bessere Hälfte”.
Für Renate ist Renate „Horsts Seelengefährtin”.
Für mich ist Renate „Die, die mich wahnsinnig macht”.
Nicht erst seit Corona.
Aber seit Corona erst recht.
„Man erstickt ganz, ganz langsam und qualvoll”, sagt Renate. Ihre immer ein bisschen zu leise, Sanftmut vortäuschende Stimme zittert vor Aufregung.
Der graue Lappen muffelt und fühlt sich schleimig an. Ich hätte ihn längst gegen einen frischen auswechseln sollen, aber der rechtzeitige Austausch von Küchenwischlappen gehörte noch nie zu meinen persönlichen Stärken. Meinem dunkelgrauen Küchenlappen würde sich ein Herr Drosten nur mit FFP3000-Maske nähern.
Renate beginnt, mir detailreich die Phasen des Erstickungstodes zu schildern. Sie kommt jetzt so richtig in Fahrt. Das kann dauern, bis sie fertig ist. Ich klemme mir das Telefon zwischen Wange und Schulter und nutze die Zeit sinnvoll, indem ich im Kühlschrank herumwische, der sich auch nicht gerade in einem hygienisch einwandfreien Zustand befindet. Danach liegt der Lappen fast so glibberig in meiner Hand wie eine von den Quallen, die ich meiner Schwester immer hinten in die Hose ihres ersten Bikinis gesteckt habe, als wir mit den Eltern an der Ostsee waren.
Renate hat das Erstickungsendstadium erreicht.
Bis vor kurzem galt man mit so einem Küchenlappen als Schlampe. Inzwischen wird der Besitz eines solchen Lappens als Verstoß gegen die UN-Biowaffenkonvention gewertet. Ich versenke ihn im Müll. Ich gucke in unseren Garten.
Unser Garten ist klein, ein Mittelreihenhausgarten. Bis letzten Samstag bestand er aus einer Terrasse und einer dreißig Quadratmeter großen Rasenfläche, die links in die Rasenfläche der Nachbarfamilie übergeht und rechts von einem niedrigen Jägerzaun begrenzt wird. Vor dem Zaun habe ich einen schmalen Blumenstreifen angelegt und einen Schneeball gepflanzt. Seit letztem Wochenende sind es nur noch achtundzwanzig Quadratmeter Rasen, denn Martin war letzten Freitag schon wieder im Baumarkt.
Martin sagt mehrmals pro Woche: „Ich fahre eben noch mal kurz in den Baumarkt.”
Ich weiß gar nicht, was er dort immer macht.
Ich glaube, ich will es gar nicht wissen.
Vielleicht hat er vor lauter Corona einen Flirt mit der jungen Verkäuferin in der Farbenabteilung begonnen, die wie alle Mitarbeiter in unserem Baumarkt von gar nichts irgendeine Ahnung hat, die sich aber anders als all ihre Kolleginnen und Kollegen immer sehr süß dafür entschuldigt. Jedenfalls, am vorletzten Freitag kam Martin mit den Materialien, die er für den Bau eines Fahrradunterstandes in unserem Vorgarten brauchte, nach Hause. Und diesen Samstag lag der Bausatz für ein Hochbeet im Kofferraum. Das Hochbeet hat er am Grundstücksende aufgestellt und Zucchini darin ausgesät, obwohl er als einziger in der Familie gerne Zucchini isst.
Er träumt von einem zweiten Hochbeet. Möhren und Erbsen. Und von einem Geräteschuppen.
Ich schaue in unseren kleinen Reihenhausgarten und denke: Falls Corona wirklich so lange dauert, wie manche munkeln, werden wir irgendwann gar keinen Rasen mehr haben.
Renate wechselt das Unterthema. „Und hast du schon mitbekommen? Es haben sich lauter Krebspatienten angesteckt. Ausgerechnet bei einer Putzfrau. Dabei sollte man doch meinen, Putzfrauen sind besonders reinlich.”
Seit die erste Corona-Infektion in unserer Stadt gemeldet wurde, ruft Renate täglich montags bis freitags bei mir an, um sich zu erkundigen, ob Martin, die Kinder und ich noch gesund sind, und um mich auf dem Laufenden zu halten, was die neuesten Corona-News angeht. Renate ist eine sprechende Pandemie-Presseschau, sie weiß alles, was man wissen muss. Und noch viel mehr. Nur am Wochenende meldet sie sich nie, so als hätten das Virus und damit auch ihre Sorgen eine geregelte Fünf-Tage-Woche.
„Warum rufst du eigentlich immer nur unter der Woche an?”, habe ich neulich gefragt.
Nicht dass ich wünschte, es wäre anders. Ich war nur neugierig.
„Weil man auch mal entspannen und an was anderes denken muss, Lindi. Sonst steht man das alles ja nervlich gar nicht durch”, hat Renate gesagt.
Wer nie anruft, ist mein Vater.
Mein Vater redet nicht so gerne.
Noch weniger gerne telefoniert er.
Bevor Renate bei ihm eingezogen ist, hat man ihn so gut wie nie erreicht. Man konnte immer nur mit dem Anrufbeantworter sprechen, und drei Tage später rief mein Vater dann manchmal zurück. Manchmal auch nicht. Erst seit er Telefonate wieder an eine Frau delegieren kann, geht er ab und zu ran.
„Wels?” Mein Vater meldet sich immer mit Nachnamen, so als hätte er immer noch das dunkelgrüne Telefon mit den dicken, schwarzen Tasten und dem Hörer zum Auflegen, also eines, das nicht anzeigen kann, dass es seine jüngere Tochter ist, die anruft. Immer hängt er ein Fragezeichen an seinen Namen ran, so als wolle er eigentlich was ganz anderes sagen: Was willst du, warum störst du mich?
„Hallo Papa, Lindi hier. Ich wollte mal hören, wie es dir so geht.”
„Gut, danke. Ich reiche dich mal an Renate weiter.”
Renate redet sehr, sehr gerne.
Weil mein Vater nicht so gerne redet, und Renate das Haus nur noch morgens um sechs zum Walken verlässt und nicht mehr einkaufen geht und keine Bekannten mehr trifft und niemanden in die Wohnung lässt, hat sie sich, um ihren Gesprächsbedarf zu decken, aufs Telefonieren verlegt. Ich bin die erste, die sie anruft, immer morgens gegen neun. Bis vorvorletzte Woche hatte Renate alle schlimmen, schlechten, schauderhaft schrecklich schockierenden Nachrichten, mit denen sie mich jeden Morgen versorgt, aus dem Hamburger Abendblatt. Das Hamburger Abendblatt hatte mein Vater schon abonniert, als ich noch nicht mal gezeugt war.
Aber dann hat Renate vorvorletzte Woche aufgeschnappt, dass das Virus auch auf Papier ansteckend bleiben kann. Daraufhin hat sie meinen Vater gezwungen, das Abo umgehend zu kündigen. Die Abendblätter, die bis zum Inkrafttreten der Kündigung noch kommen, kommen ihr nicht mehr ins Haus. Die entsorgt sie frühmorgens direkt in die Papiertonne. Vorher zieht sie sich Einweggummihandschuhe über.
„Zweiundsiebzig Stunden kann es auf Plastik und Edelstahl überleben, und vierundzwanzig Stunden auf Papier. Stell dir vor, einen ganzen Tag!” Renate hat mir erklärt, wie gefährlich das sei für meinen Vater, den Abendblatt-Abonnenten, der die Zeitung immer beim Frühstück zu lesen pflege – eine Gewohnheit, die nun zur tödliche Falle geworden sei.
„Erst liest er den Lokalteil, dann pult er sein hartgekochtes Ei. Ohne sich vorher die Hände zu desinfizieren. Das ging so nicht weiter, Lindi, obwohl er nicht sehr einsichtig war, dein Vater. Aber ich habe ‚Horst’ gesagt, ‚Horst, wir müssen in diesen Zeiten alle verzichten. Jeder muss sich einschränken und Rücksicht nehmen auf die Kranken und Alten, auch du musst das.’”
Renate ist kerngesund und jung, ganze neun Jahre jünger als mein fast genauso kerngesunder Vater. Mein Vater ist dreiundachtzig. Die Zwei haben sich vor sechs Jahren bei einem Volkshochschul-Digitalisierungskurs für Senioren kennengelernt. Sie wissen nicht nur, wie man auf einem iPad ins Internet kommt. Sie wissen auch, wie man per WhatsApp laufend aktualisierte Einkaufslisten versendet.
Hier die neueste Liste, Stand gestern:
- 4 frische Wiener Würstchen von Salzbrenner
- 10 Eier, braun, Größe L, Freilandhaltung
- 400g Homann klassischer Kartoffelsalat mit Gurke und Zwiebeln
- 12 kleine ! Kartoffeln Linda
- 6 Chiquita Bananen grüngelb
- 1 Pfund Mohrrüben nicht zu groß
- 6 Elstar im Pappkörbchen
- 200g Leerdamer i. Stück a. d. Mitte
- 1 Brioche in Scheiben
- 1 Liter frische Vollmilch Hansano
- 2 Kirschjoghurt Weihenstephan, notfalls Landliebe, kein Almighurt!!!
- Toilettenpapier 4-lagig schlicht weiß
- Handseife im Spender Dove fine silk
Fruchthaus Meyer
- 1 Flug-Mango
Den von Renate diktierten, von meinem Vater getippten Einkaufslisten ist nicht anzumerken, dass sie hinsichtlich ihrer Ernährungsgewohnheiten auf irgendetwas zu verzichten gedenken wegen Corona – oder auch nur aus Rücksicht auf mich, die Adressatin dieser Listen. Warum auch sollten sie Rücksicht nehmen auf mich?
Ich bin nicht alt.
Erst einundfünfzig bin ich.
„Die Wahrscheinlichkeit, dass du an Corona stirbst, wenn du es kriegst, liegt nur bei eins Komma vier Prozent”, hat Renate mir erklärt. „Das ist nicht nichts, Lindi, aber es ist eine sehr, sehr reelle Überlebenschance.”
Ich bin auch nicht krank.
Ich hatte in letzter Zeit nur eine Hallux-OP, ein mittelschweres Zahnfleischproblem – und eine erst vor kurzem beendete tiefenpsychologische Gesprächstherapie. Die Therapie habe ich gemacht, um endlich zu mehr innerer Distanz zu meinem verwitweten Vater und seiner Lebensgefährtin zu gelangen.
Wenn Corona vorbei ist, werde ich eine neue Therapie machen müssen.
„Die Familie ist das Einzige, worauf man sich verlassen kann, Lindi, das merkt man gerade in solchen Zeiten”, hat die Lebensgefährtin meines Vaters mir erklärt, nachdem sie mir ihre allerersten „Bestellungen” geschickt hatte, so nennt Renate ihre Einkaufslisten. „Das habe ich auch zu deinem Vater gesagt. ‚Horst’, habe ich gesagt, ‚Horst, nun kriegen die Kinder die Chance, ein wenig von dem zurück zu geben, was sie alles von uns bekommen haben.’”
Das ist nicht wahr. Ich bin die einzige, die diese Chance bekommt. Anders als meine große Schwester Beate und Renates Sohn Karsten habe ich genug Zeit, um vor sämtlichen Bäckereien der Umgebung Schlange zu stehen. Anders als Beate und Karsten bin ich nicht systemrelevant. Im Gegenteil.
Ich bin ein Corona-Nichts.
Ich bin die nicht-alte, nicht-kranke, vollkommen überflüssige und sehr unausgelastete, unbekannte Autorin eines verheißungsvollen Debut-Romans, der vor zwei Wochen erschienen ist und für den sich kein Schwein interessiert .
Nicht mal die mit mir in einem Haushalt lebenden Personen.
April 2020
So gut, Julia Karnick! Habe vor mich hin gekichert …