Während der letzten Wochen habe ich zwei Bücher gelesen, die ich immer lesen wollte: „Ehepaare“ von John Updike und „Zeiten des Aufruhrs“ von Richard Yates. In beiden Romanen geht es um Vorstadt- Ehepaare, die auf der Schwelle zum mittleren Alter versuchen, dem Mittelmaß ihrer Mittelschichts-Existenz zu entkommen.
Gebildete Mittelschichtspaare, die verwöhnte Kinder ins Bett bringen
und sich dann auf die gepflegte Terrasse oder ins gediegene Wohnzimmer setzen, wo sie zu viel trinken und zu wenig wagen.
Beide spielen vorwiegend hinter den Gartenzäunen properer Einfamilienhäuser, in denen gebildete Paare nach der Arbeit verwöhnte Kinder ins Bett bringen und sich dann – zu zweit oder mit anderen mittelalten Mittelschichtspaaren – auf die gepflegte Terrasse oder ins gediegene Wohnzimmer setzen, wo sie zu viel trinken und zu wenig wagen. Es gibt Bücher, die heitern mich auf. Diese gehörten nicht dazu.
Eines Abends, ich hatte den Yates fast durchgelesen, kam ich aus dem Büro, ich setzte mich mit einem Bier auf die Terrasse, ich dachte an die Kinder, an Updike und Yates, ich dachte an morgen und dass ich wieder arbeiten und nach Hause kommen und die Kinder ins Bett schicken, mich in den Garten setzen und Bier trinken würde, vielleicht würden Freunde vorbeikommen.
Ich sah in den sommerlichen Garten, ich dachte: „Gefängnisgarten.“ Ich suchte im Internet nach Veranstaltungstipps, ich rief die Kinder: „Anziehen! Wir gehen ins Theater.“ Mein Sohn: „Jetzt? Können wir nicht ins Kino?“ Meine Tochter: „Aber morgen ist Schule.“ – „Egal“, sagte ich, „ich muss raus hier, sofort. Und ihr kommt mit.“ Eine Stunde später saßen wir in einer Aufführung der Hamburger HipHop Academy.
Die HipHop Academy liegt in Hamburg-Billstedt, einem Stadtteil mit wenig Gärten, vielen Hochhäusern, vielen Hartz-IV-Empfängern und vielen Immigranten. Die Academy ist eine öffentlich geförderte Einrichtung, in der Jugendliche kostenlos in verschiedenen Bereichen der Hiphop-Kultur trainieren können. Zwanzig der Besten, die Jüngste elf, standen nun auf der Bühne, in einem Stück über sich selbst.
Meine Kinder mit blonden Seitenscheiteln, ich mit weißer Bluse –
auf einer abendlichen Hiphop-Performance:
Wir waren auf den ersten Blick als Randgruppe zu identifizieren
Im Zuschauerraum: viele Schulklassen aus Schulen mit vielen Schülern nicht-deutscher Abstammung. Zwischen den Schülern und ihren Lehrern: wir, die Gartenflüchtlingsfamilie, auf den ersten Blick als Randgruppe zu identifizieren – meine Kinder mit blonden Seitenscheiteln, viel zu jung, um abends eine Hiphop-Performance zu besuchen, ich mit weißer Bluse, viel zu alt für eine Hiphop-Performance.
Das Licht ging aus. Musik wummerte, Bässe stampften. Die Jugendlichen tanzten so großartig, dass mir die Spucke wegblieb, sie sangen so schön, dass ich eine Gänsehaut bekam, sie erzählten aus ihrem Leben, bis ich einen Kloß im Hals hatte – vor allem die jungen Frauen.
Eine erzählte von ihren muslimischen Eltern, die sich bis heute keinen ihrer Auftritte angeschaut haben, weil es sich für eine Muslimin nicht gehört, auf der Bühne zu stehen. Ein schwarzes Mädchen, zwölf oder 13, erzählte von der Mutter, die ganztags arbeitet, allein fünf Kinder großzieht und so lange eisern gespart hat, bis alle nach Gran Canaria fliegen konnten. Die dritte erzählte von der kleinen Schwester, die glaubte, ihre Heimat Polen beginne an der nächsten Straßenecke.
So viel Mut, Ehrgeiz, Energie, Leidenschaft, Buntheit und Lebendigkeit – davon könnte nicht nur ich etwas brauchen, sondern alle, die ich kenne. Eigentlich das ganze blasse Land
Erst war ich beeindruckt, dann wurde ich sehnsüchtig, beinahe neidisch: so viel Mut, Ehrgeiz, Energie, Leidenschaft, Buntheit und Lebendigkeit – davon könnte nicht nur ich etwas brauchen, sondern alle, die ich kenne. Eigentlich das ganze blasse Land. Das Stück dauerte zwei Stunden, die Kinder saßen sehr still, am Ende sagten sie: „Können wir da noch mal hin?“
Ich dachte: Deutschland hat zu viele Gartenzäune. Auf der einen Seite der Gartenzäune tanzen die Kinder Ballett, auf der anderen Hiphop. Statt zu sehen, welch Potenzial es anderswo gibt, verschanzen wir uns auf unserer Seite des Zauns und rufen rüber: Wer nicht Ballett tanzt, Klavier spielt oder Romane liest, darf hier nicht rein! Ich denke, das ist ein großer Fehler.
Brigitte 17/2009
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