Ich bin wahnsinnig wütend über den „Fall Claas Relotius”, wie er von vielen genannt wird. Verharmlosend, wie ich finde.
Alles, was ich bisher dazu gelesen habe, hinterlässt bei mir den Eindruck: Ich habe das Arbeitsethos, den Qualitäts-Anspruch, die Gründlichkeit des SPIEGEL und wohl auch anderer Leitmedien heillos überschätzt.
Bis Mittwoch hätte ich es niemals für möglich gehalten, dass man in Redaktionen wie dem SPIEGEL Jahre lang damit durchkommen könnte, sich Geschichten einfach auszudenken, ohne dass die Verantwortlichen es bemerken. Dass Interviews einfach gedruckt werden, ohne Tonbandaufnahmen zu fordern oder eine Autorisierung.
WO WAR DIE DOK?
Erstens, weil es doch diese legendäre SPIEGEL-Dokumentation gibt, die angeblich Wort für Wort prüft, ob das, was in SPIEGEL-Texten gesagt wird, auch (die Wahrheit) ist.
Zweitens: Selbst in Redaktionen, die über keine derartige „DOK“ verfügen, erscheint mir diese Art von Betrug über einen so langen Zeitraum geradezu als Ding der Unmöglichkeit. Zumindest dann, wenn es dort noch irgendein Redaktionsmitglied gibt, das sich ernsthaft dafür verantwortlich fühlt, Texte kritisch gegenzulesen – nämlich mit dem Willen, aus welchen Gründen auch immer in den Text geratene Fehler zu finden und auszumerzen.
Denn das Erfinden von Geschichten mag im digitalen Zeitalter leichter sein als im analogen, weil man im Netz alle Infos findet, die man braucht, um glaubwürdige Phantasiewelten zu erschaffen.
Zugleich müsste es im digitalen Zeitalter aber auch deutlich schwieriger sein als früher, mit solchen Phantasiewelten in Redaktionen durchzukommen und das auch noch dauerhaft.
GOOGLEN IST SO EINFACH
Es braucht – das weiß jeder Fünftklässler heutzutage – nur wenige Augenblicke, Namen, Positionen, Lebensläufe und alle möglichen anderen Infos zu googeln. Es gibt die Bildersuche. Orte lassen sich per Google Maps besichtigen. Und wenn es zum Beispiel zu einer angeblich in Deutschland lebenden Person keinen einzigen Eintrag gibt, dann ist das heutzutage so ungewöhnlich, dass man sich erst mal wundern sollte. Nicht zuletzt ist die Kommunikation mit Menschen und Institutionen viel schneller und einfacher geworden.
Wenn aber die Texte von Claas Relotius nicht ansatzweise so gründlich geprüft wurden, wie ich es von einer Redaktion mit dem Anspruch des SPIEGEL felsenfest erwartet hätte: Welchen Grund habe ich zu glauben, dass diese notorische Nachlässigkeit nicht auch bei Texten von anderen Autoren und Autorinnen möglich oder gar verbreitet ist?
Der Glaubwürdigkeitsschaden für den SPIEGEL und andere betroffene Redaktionen und damit für unsere ganze Gesellschaft ist nicht groß. Er ist gigantisch.
Zumal erste Stimmen von jungen Kolleginnen öffentlich werden, die behaupten: Es sei nicht unüblich in der Branche, dass Chefs von jungen Autorinnen und Autoren erwarten, Geschichten zu frisieren, um ihnen die aus ihrer Sicht nötige Rasanz zu verschaffen.
DER HOCHSTAPLER IST NICHT DER EINZIGE VERANTWORTLICHE
Als Leserin und als Kollegin nehme ich die Relotius-Affäre nicht als bedauernswerten Einzelfall wahr, sondern als Symptom eines redaktionellen Systemfehlers, als Auswuchs eines strukturellen Versagens, an dem Viele beteiligt waren.
Es reicht deshalb meiner Meinung nicht, den Hochstapler zum alleinigen Hauptverantwortlichen zu machen – und ansonsten nur „noch mal genau hinzugucken, was wir da genau machen”, wie Ullrich Fichtner im Deutschlandfunk (DLF) angekündigt hat: Das hatte ich, wie gesagt, für selbstverständlich gehalten, dass der SPIEGEL ganz genau hinguckt, was genau er da täglich so macht. Und die „Schlupflöcher”, nach denenen zu suchen Fichtner angekündigt hat, die waren offenbar keine Löcher, sondern hatten eher das Ausmaß von Scheunentoren.
Verantwortlich für all das sind beim SPIEGEL mindestens auch die, unter deren Führung Claas Rotius mit seinen vielfach ausgedachten Texte kometenhaft Karriere machen konnte: Ullrich Fichtner und Matthias Geyer. Beide sollen zum 1. Januar 2019 in die Chefredaktion aufsteigen.
Ullrich Fichtner war bis Frühjahr 2016 Leiter des Spiegel-Gesellschaftsressorts und hat in dieser Funktion, wie er selbst in dem DLF-Interview sagte, Claas Relotius als Autor entdeckt und als festfreien Mitarbeiter zum SPIEGEL geholt: „Ich habe ihn damals beim Reporterpreis bei einer Preisverleihung kennengelernt und als Talent auch sofort bemerkt und mit ihm gesprochen und ihn dann auch als freien Mitarbeiter zum ‚Spiegel‘ geholt. Also insofern gibt es eine persönliche Verbindung.”
Falsch, es gibt eine persönliche Verantwortung.
Matthias Geyer, der das Ressort Gesellschaft – früher mit Fichtner zusammen und nach dessen Weggang alleine – leitete, hat Relotius fest angestellt. Auch er soll ab 2019 als „Blattmacher“ auf der Chefredaktions-Stellvertreterebene zum Top-Führungszirkel des SPIEGEL gehören.
Statt sich als Opfer eines irren Einzeltäters darzustellen und ab 2019 in die Chefredaktion aufzusteigen, müssten meiner Meinung nach beide, Fichtnet und Geyer, ihren Hut nehmen, um den Schaden für den Ruf des Magazins und der ganzen Branche zu begrenzen.
Ist das nicht auch das, was in den Medien immer von Politikern gefordert wird, in deren Verantwortungsbereich etwas vergleichbar Skandalöses geschieht?
Juan Moreno, jener Kollege, der Relotius enttarnt hat, ist übrigens kein SPIEGEL-Redakteur. Es ist also nicht ganz richtig, wenn die Redaktion nun so tut, als sei es die Aufdeckung durch einen der ihren geschehen: „Ich bin Pauschalist mit einem Vertrag, der jedes Jahr automatisch ausläuft.“, so Moreno in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung.
VERPASSTE SIEGE UND CHANCEN
Was, wie ich finde, auch thematisiert werden muss: Claas Relotius hat mit seinen Texten Journalisten-Preise en masse abgeräumt, unter anderem vier Mal den sehr renommierten Deutschen Reporterpreis. Ich kenne junge Kollegen, die nur knapp gegen ihn verloren haben – womöglich gerade deshalb, weil sie integre Journalisten sind und mit der Konsequenz, dass ihre eigene Karriere nicht so sensationell verlief wie die von Relotius.
Auch dafür, für die verpassten Siege und Chancen dieser jungen Kolleginnen und Kollegen, sind diejenigen verantwortlich, die im deutschen Qualitätsjournalismus das Sagen haben und dabei einem Betrüger auf den Leim gegangen sind: Wie werden sie diesen Schaden wiedergutmachen?
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Nur um das mal für’s Protokoll festzuhalten: Von mir hat noch nie jemand beim Spiegel erwartet, eine Geschichte zu frisieren, und schon gar nicht Matthias Geyer oder Ullrich Fichtner – im Gegenteil. Ich finde auch die Formulierung: „Zumal erste Stimmen von jungen Kolleginnen öffentlich werden, die behaupten: Es sei nicht unüblich in der Branche…“ ein ziemliches Geraune.
Das glaube ich Ihnen sofort. Es ist ja auch nicht das zentrale Thema meines Textes, dass das Frisieren/Schönen von Geschichten von Vorgesetzten aktiv eingefordert wird – es ist derzeit nur ein Aspekt, der im Windschatten der Diskussionen aufgekommen ist. Zu dem, was Sie als Geraune bezeichnen, habe ich verlinkt (https://www.facebook.com/ronja.vonwurmbseibel/posts/10215437656547017): Eine Kollegin schildert öffentlich und nicht anonym ihre Erfahrungen, ohne aber Namen zu nennen. Ihr wird von zahlreichen Kollegen beigepflichtet. Für mich ist das mehr als Geraune. Und selbst, wenn Relotius tatsächlich ein krasser, einmaliger Einzelfall ist: (Journalistische) Glaubwürdigkeit ist eine Mimose, die deutlich weniger bräuchte, als ihn, um in sich zusammenzufallen: Sie ist in Sachen SPIEGEL derzeit nicht nur angekratzt, sondern erschüttert. Und das erfüllt mich keineswegs mit Häme und Schadenfreude, das finde ich entsetzlich. Es macht mir sogar Angst.
AutorinIch muss Ihnen da leider zustimmen. Es ist zu befürchten, dass es sich hier nicht um einen Einzelfall handelt, sondern dass der Fall Relotius möglicherweise nur so etwas wie die Spitze des Eisbergs sein könnte . Dass dadurch die journalistische Glaubwürdigkeit Schaden nimmt, ist unvermeidbar. Das ist gefährlich, gerade auch in Zeiten, in denen Journalisten besonders von rechter Seite oft genug mit Fake – News – Vorwürfen konfrontiert werden. Dass die journalistische Glaubwürdigkeit ausgerechnet von Journalisten selbst aufs Spiel gesetzt wird, macht mich sprachlos. Welche „Gründe“ es dafür auch geben könnte (Gier? Geltungssucht?), es ist nicht zu entschuldigen.
Bin hierüber https://readonmydear.com/2018/12/22/woanders-ist-es-auch-schoen-52/comment-page-1/#comment-11485 auf Ihren ‚zornigen Beitrag‘ aufmerksam geworden. 🙂
Ihr Zorn ist sehr nachvollziehbar. Nachdenklich, wie zornig machen mich auch folgende Einlassungen:
„Fälschungen der aufgedeckten Art können passieren. Wirklich stören muss, dass jetzt vom Spiegel der Eindruck erweckt wird, als sei ansonsten alles in Ordnung, als würde der Spiegel ansonsten vor allem die Wahrheit schreiben. Dieser falsche Eindruck zwingt zum Widerspruch:
Der aufgeflogene Fall ist harmlos verglichen mit der Tatsache, dass sich der Spiegel als Instanz der Aufklärung und der kritischen Begleitung des politischen Geschehens in Deutschland verabschiedet hat. Das ist um vieles schlimmer als die Fälschungen des Redakteurs Relotius. “
https://www.nachdenkseiten.de/?p=47960
Ich stimme zu hundert Prozent zu! Und wenn es möglich wäre, dann auch mehr. Und das jetzt als einmaligen Einzelfall darzustellen, grenzt ja schon wieder an Frechheit, Selbstüberschätzung und Überheblichkeit. Danke, Julia Karnick, für den zutiefst wahren und aufrechten Text! Sunnihild Schmidt
Manchmal fragt man sich in welcher Welt mache Menschen (Journalisten) leben. Der Jounalismus hat sich doch schon vor Jahren von Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit verabschiedet. Gerade beim Spiegel, den kann man doch schon seit Jahren nicht mehr lesen. Die Veränderung geschah doch auch schon vor Jahren. Sinkende Auflagen und Beschwerden wurden ja einigen zuviel und dabei haben sie einfach ihre Kommentarspalten abgeschaltet. Damit Leser nicht mehr ihren Unmut bzw gleich zeigen konnten wo der Autor „irrt“. Gibt doch genügend Bsp. dafür. Es ist doch traurig in halbstündigen Satiresendungen mehr Informaton, Hintergründe, Zusammenhänge zufinden wie in unseren MSM.
… und Vorwürfe gegen Journalisten kommen doch schon lange auch von nicht rechten und auch Journalisten selbst. Nein man schwimmt in seiner eigenen Blase und ignoriert alles andere. Andere Meinungen werden fast nicht mehr geduldet. Was ist eigentlich los in diesem Land?
Ja, die Oberen sind für diese Lügenmärchen mitverantwortlich und haben in sicherlich auch gefördert.
Mein Eindruck der Spiegel ging doch nur in die Offensive, weil diese Sache nicht mehr unter den Teppich gekehrt werden konnte.
Anmerkung zum Schluss: Ich kann mich schon gar nicht mehr erinnern, wann ich zum letzten Mal den Spiegel gelesen habe. Ist schon einige Jahre her.
So groß meine Kritik am SPIEGEL in dieser Sache ist: Verallgemeinernde Pauschalurteile jeder Art lehne ich ab, auch zum Thema Medien/Journalismus. Dass der Journalismus sich „schon vor Jahren von Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit verabschiedet“ habe oder „andere Meinungen (…) fast nicht mehr geduldet werden“ halte ich für Pauschalurteile. Es gibt in diesem Land unzählige integre, sorgfältig arbeitende JournalistInnen, und es gibt viele verschiedene Medienerzeugnisse, die die gesamte Meinungs-Bandbreite von sehr links bis sehr konservativ/rechts abbilden: Nur weil man mit einer Meinung in der Minderheit ist oder ordentlich Gegenwind bekommt, heißt das noch nicht, dass man nicht geduldet wird.
Dass die Kommentarspalten auf vielen Medien-Seiten abgeschaltet wurden, lag daran, dass dort zu viele Kommentare geschrieben wurden, die völlig unter der Gürtellinie formuliert waren oder von Trollen stammten: Sie zu moderieren wurde schlicht personell zu aufwendig, mal abgesehen davon, dass so gut wie jeder relevante Artikel auf FB erscheint und dort öffentlich kommentiert werden kann.
AutorinSehr geehrte Frau Karnick, vielen Dank für Ihren Text. Ich fühle mich in der Annahme bestätigt, dass das Relotius’sche ein System ist, das es als vordringliche Aufgabe sieht, nicht zu informieren, sondern zu erziehen. Die Äußerungen der beiden neuen Chefredakteure beruhigen mich gar nicht, ganz im Gegenteil. Dass zusätzlich weiter relativiert und verharmlost wird – ‚mentale Zwangslage‘ – ist beschämend, aber andererseits nicht verwunderlich, denn zu einer schonungslosen Aufarbeitung gehört Charakter. Und, wie Sie ja schon so treffend bemerken, stehen uns sicherlich weitere Fälle ins Haus. Nachgerade der SPIEGEL hat sich beispielsweise mit seiner tendenziösen, einseitigen Berichterstattung über Israel schon seit einigen Jahren so positioniert, dass man ihn nicht mehr ernst nehmen kann. Verwunderlich ist tatsächlich, wie der Schreiber soviel Preise bekommen konnte. Das sollte allen zu denken geben. Mein erster Gedanke, als alles ans Licht kam: Klar, er hat es gemacht, weil es ging. Das größte, aber auch fragilste Kapital, dass ein unabhängiger Journalismus haben kann, die Glaubwürdigkeit, ist pulverisiert. Nochmals, vielen Dank für Ihren Text.
Sehr geehrter Herr Schüler,
Autorinich finde auf Ihrem Blog kein Impressum: Können Sie mir bitte den Link dazu schicken?
1974 hatte ich einen Freund, der sich vehement bei einer Redaktion beschwerte, weil durch Beschneiden eines Fotos aus einer anderen Zeitung ein völlig falscher Sachverhalt als wahr dargestellt wurde. Nach so langer Zeit weiß ich nicht mehr welche Zeitungen es waren.
Die Medien Lügenpresse bzw. (manipuliertes)Lügen-TV zu nennen, ist manchmal nicht unberechtigt.
Bei einem Filmbeitrag des damals noch SFB, in dem mein Partner und ich gefilmt wurden, wurde nur eine Szene gezeigt, die aus dem Zusammenhang gerissen, ein völlig falsches Bild vermittelte. Da wir unterschrieben hatten, konnten wir nicht dagegen klagen.
Aus einem Interview als Beitrag für eine Psychologiearbeit machte eine Berliner TU-Diplomantin aus der Tatsache, dass ich einmal als ostdeutsche Mädchen vergeblich versucht hatte, in Hessen eine Flasche Schnaps gegen ein Kilo Mehl einzutauschen, die Behauptung, ich hätte als Zwölfjährige in einer Kleinstadt Schwarzhandel betrieben.
Relotius ist also nichts umwerfend Neues. Wahrscheinlich wurde niemand persönlich diffamiert.
Nun, der Spiegel hat auch die Hitler-Tagebücher gedruckt. Was erwartet man von so einem Blatt?
Nun, es war der Stern, der die Hitler-Tagebücher gedruckt hat, nicht der Spiegel.
Autorin