Ich wurde 1976 eingeschult. Eines der Mädchen in meiner Klasse hieß Birgit. Birgit hatte drei sehr große Schwestern und einen nur zwei Jahre älteren Bruder, vor dem ich Angst hatte, seit er mich im vergitterten Lichtschacht eines Kellerfensters eingesperrt und behauptet hatte, er würde mich nie wieder freilassen. Birgits Eltern waren evangelikale Christen.
Birgit wohnte drei Reihenhausreihen weiter, auf den gleichen, identisch geschnittenen hundert Quadratmetern plus Keller wie ich. Ich bewohnte die hundert Quadratmeter mit meinen Eltern und zwei Schwestern, Birgit bewohnte sie zu Acht, mit ihren vier Geschwistern, mit ihrem strengen Vater, ihrer gehorsamen Mutter und mit der Großmutter mit den schlimmen Beinen.
Die Großmutter lag entweder in ihrem Bett oder saß in ihrem Sessel, ihre schlimmen Beine wurden von Birgits Mutter täglich frisch verbunden. Die gewaschenen Verbände hängte die Mutter auf die immer volle Wäschspinne in dem kleinen Garten, der zu ihrem und unserem Reihenhaus gehörte.
Das Zimmer der Großmutter, das diese nie verließ, war das Zimmer, das bei uns zu Hause mein Kinderzimmer war. Das Großmutterzimmer war fast immer abgedunkelt, alles darin war grau, beige oder braun, es roch nach Essen, benutzten Verbänden und Medizin. Mein Kinderzimmer war hell, meine Mutter hatte es in Siebzigerjahre-Orange, Sonnengelb und Türkisblau eingerichtet und bestand darauf, es täglich zu lüften und zwar gründlich, auch im tiefsten Winter. Dass ein exakt gleicher Raum zwei so gänzlich verschiedene Welten in sich aufnehmen konnte, löste einen milden Grusel bei mir aus.
Birgits Eltern schliefen im Wohnzimmer auf einem Schrankbett, das mir Birgit einmal heimlich vorführte. Das Schrankbett, erzählte sie, klappte ihr Vater jeden Abend aus und ihre Mutter jeden Morgen hoch, so dass das Wohnzimmer tagsüber wie ein ganz normales Wohnzimmer aussah, mit einem Sofa und einem Sofatisch und einer Schrankwand.
Nur ich wusste, dass Birgits Eltern darin keine Bücher, Schallplatten oder das gute Geschirr aufbewahrten, sondern ein Geheimnis, das mit wenig Geld und vielen Kindern zu tun hatte und damit, dass ich mir, als ich mal bei Birgit zum Abendbrot aß, nur Margarine aufs Brot schmieren, aber nichts von der Butter nehmen durfte, die ebenfalls auf dem Tisch stand. Butter sei teuer, belehrte mich Birgits Vater, und deshalb nur für die kränkelnde Mutter da. Die Mutter lächelte blass und sagte nichts. Ich schämte mich entsetzlich und blieb nie wieder zum Abendbrot.
In jenem Wohnzimmer mit der geheimnisvollen Schrankwand fand einmal in der Woche, immer mittwochnachmittags, die Kinderbibelstunde statt, zu der Birgit mich irgendwann in der ersten Klasse zum ersten Mal eingeladen hatte. Geleitet wurde die Kinderbibelstunde von Tante Elisabeth, einer Glaubensschwester von Birgits Eltern. Tante Elisabeth trug niemals Lippenstift oder Lidschatten, dafür immer einen strengen Seitenscheitel, einen strammen Dutt und ausschließlich Röcke, die übers Knie reichten, über hautfarbenen Strumpfhosen, die in Halbschuhen der Marke Mephisto mündeten.
Tante Elisabeth war unverheiratet und kinderlos und hatte von Gott den Auftrag erhalten, Kinder aus ungläubigen Familien zu Jesus Christus zu führen, Kinder wie mich.
Dass es ihr gelang, Mittwoch für Mittwoch je nach Wetterlage mal fünf, mal zehn Kinder von der Straße in ein Wohnzimmer zu locken, hing zum einen mit den Süßigkeiten zusammen, die sie ganz am Ende der Bibelstunde verteilte, zum anderen mit den Geschichten, die sie erzählte. Tante Elisabeth erzählte Geschichten aus der Bibel, jeden Mittwoch eine andere. Sie konnte sehr gut erzählen, mitreißend und spannend. Sie erzählte von Adam und Eva über den Turmbau zu Babel und David und Goliath bis hin zu Jesu Geburt und der Ausschüttung des Heiligen Geistes. Sie erzählte nicht nur mit Worten, sondern auch mit Bilderszenen, die sie vor unseren Augen werden und vergehen ließ, passend zum jeweiligen Stand der Geschichte.
Um die Geschichten, die sie erzählte, bebildern zu können, hatte Tante Elisabeth jeden Mittwoch einen Koffer dabei. Zu Beginn der Kinderbibelstunde klappte Tante Elisabeth den Koffer auf, dem sich kein Kind auch nur nähern durfte. Sie nahm eine Filzdecke heraus, von der ich nicht mehr weiß, ob sie dunkelgrün oder braun oder schwarz war, und hängte sie über eine von Birgits Eltern bereitgestellte Tafel. In dem Koffer lagen außerdem unzählige Figuren und Motive, bunt gedruckt auf dünnen Karton, dann sorgfältig ausgeschnitten.
Auf der Rückseite der Papierbilder klebten Klettpflaster, so dass sie an der Filzdecke hängen blieben, wenn man sie darauf drückte, aber auch jederzeit wieder entfernt werden konnten.
Es gab altertümlich gekleidete Männer, Frauen und Kinder in allen erdenklichen Körperhaltungen, es gab die Sonne, den Mond und die Sterne, Soldaten, Priester, Hirten und Könige, Wolken, Wellen, Winde, Wüsten, Häuser, Hütten und Paläste, Esel, Kühe, Vögel, Fische und andere Tiere, Palmen, Blumen und Berge und was Tante Elisabeth sonst noch brauchte, um die biblische Welt vor unseren Augen auferstehen zu lassen.
Tante Elisabeth suchte die Figuren und Motive heraus, die zu der Geschichte passten, die sie uns diesmal erzählen würde. Dann klappte sie den Koffer wieder zu. Wir sangen „Gott hat alle Kinder lieb, jedes Kind in jedem Land”, dann sprachen wir ein Gebet, dann begann sie zu erzählen.
Zum Beispiel erzählte sie von Jona und dem Wal, sie erzählte und pappte einen stehenden Mann in langem Gewand und Sandalen an die Filzdecke, dazu eine Stadtmauer und eine Gruppe böse schauender Menschen, die die verkommenen Bewohner Ninives darstellten. Sie tauschte den stehenden gegen einen weglaufenden Mann aus, die Stadtmauern erst gegen einen Hafen, dann gegen ein Schiff, umgeben von Wellen, eine dunkelgraue, böse schauende, Wind speiende Wolke tauchte auf, ein ertrinkender Mann, ein Wal.
Wir Kinder saßen auf oder vor dem Sof, wir guckten und lauschten, und wer es wagte, dazwischen zu reden, wurde von Tante Elisabeth zurechtgewiesen in einem Tonfall, der uns davon überzeugte, dass sie es ernst meinte mit ihrer Drohung, beim nächsten Missverhalten müsse der Störenfried die Kinderbibelstunde verlassen.
Ich liebte die Kinderbibelstunde, ich ging jeden Mittwoch hin.
Aber dann fiel mir etwas auf, das ich mir nicht erklären konnte. Tante Elisabeth schien für alle und alles, was in der Bibel vorkam, ein passendes Papierbild zu haben, nur nicht für den, dessen Namen sie ständig nannte, weil er in allen Geschichten die Hauptrolle spielte: Gott.
Als Tante Elisabeth das nächste Mal von Ihm erzählte, traute ich mich, mich zu melden und sie zu fragen, warum wir Gott nie zu sehen bekämen. Ob sie einzig von Ihm kein Papierbild habe? Ich war sehr erleichtert, als Tante Elisabeth nicht die Stirn runzelte, sondern lächelte, anerkennend, so als habe sie schon überlange darauf gewartet, diese Frage beantworten zu können.
Doch, sagte Tante Elisabeth, es läge sehr wohl eine Gottes-Figur in ihrem Koffer. Allerdings läge sie dort wider ihr christliches Gewissen, schließlich stünde in der Bibel, man dürfe sich kein Bild von Gott machen. Erst Recht sei es sicher eine schwere Sünde, Gott eine Form oder Gestalt zu geben, die man bunt auf dünnen Karton drucken, ausschneiden und an Filzdecken kleben könne. Das habe sie dem Figuren-Hersteller bereits in einem Brief mitgeteilt.
Darum nun, fuhr Tante Elisabeth fort, weil es Gottes Wille sei, dass wir Menschen Ihn uns nicht ausmalen, müsse sie das gotteslästerliche Papierbild von uns fernhalten und in ihrem Koffer sicher verwahren. Dies sei auch der Grund, warum sie so streng darauf achte, dass kein Kind den Koffer öffne.
Ich war tief beeindruckt von Tante Elisabeths Antwort, sie erschien mir vollkommen logisch. Ich überlegte, was wohl passieren würde, wenn ein Kind, das mutiger oder ungläubiger war als ich, trotzdem im Koffer nach Gott suchen, Ihn finden und anschauen würde. In meinen Überlegungen kamen weiße Blitze und glühende Eisen und Raimund Harmstorf vor, der gerade in „Michael Strogoff” den Kurier des Zaren spielte und in der vorletzten Folge vom Feind gefangen und mittels Blendung seines Augenlichts beraubt worden war. Etwas in dieser Art schien mir eine durchaus wahrscheinliche Strafe für den Verstoß gegen das Allererste Gebot zu sein.
Erst eine Weile später, abends im Bett, fragte ich mich, warum Tante Elisabeth das verbotene Bild überhaupt mit zur Kinderbibelstunde brachte, wenn es so gefährlich war. Warum schmiss sie Gott nicht einfach weg?
Sie das zu fragen traute ich mich aber nie.
Dafür traute ich mich etwas anderes, nämlich Gott doch noch anzugucken. Das war, als ich schon nicht mehr aus Begeisterung, sondern nur noch aus Gewohnheit zur Kinderbibelstunde ging. Tante Elisabeth war nach Ende der Stunde zum Klo gelaufen, offenbar musste sie mal ganz dringend, jedenfalls hatte sie den Koffer offen und dennoch unbeaufsichtigt zurückgelassen. Das war noch nie geschehen. Er stand aufgeklappt auf dem Boden neben der Tafel, die anderen Kinder tobten Richtung Haustür und beachteten mich nicht. Ich fand Gott sofort. Er steckte ganz unten in der Innentasche des Kofferdeckels, zusammen mit zwei Apothekenrezepten.
Und? Wie sah er aus?, fragte mich die Freundin, der ich von Tante Elisabeth erzählte. Ich lachte. Keine Ahnung, sagte ich, ich hab’s echt vergessen.
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Liebe Julia Karnick,
der Artikel ruft Erinnerungen aus meiner Kinderzeit wach. Meine Eltern hatten sich im Jugendbund für entschiedenes Christentum der Landeskirchlichen Gemeinschaft in Eisenach kennengelernt. Diese Ge-meinschaft existiert noch immer, auch in Berlin. Ob sie evangelikal ist, weiß ich nicht, weil sie „inner-halb der Evangelischen Kirche“ ist, wo die Ehen geschlossen, die Kinder getauft und konfirmiert werden. Ihre Mitglieder grenzten sich als Gotteskinder von den Namenschristen, die nur zur Kirche gehörten, weil sie getauft und konfirmiert waren, von den „weltlichen“ Menschen ab. Bubiköpfe, tanzen, rauchen, Kino, Theater, sogar Zirkus waren weltlich. Es gab keine Standesunterschiede. Die nicht enger Befreundeten siezten sich und redeten sich mit Bruder oder Schwester an. Es war unwichtig, ob jemand als Dienstmädchen arbeitete wie meine Mutter oder wie Herr Stanger Bankdirektor war, deshalb hatte und habe ich nie Angst vor Höhergestellten. Entscheidend war, dass jemand sich bekehrt, die Sünden bekannt und sich entschieden hatte, Christus nachzufolgen und christlich zu leben.
Ob ich vor meiner Einschulung 1942 das erste Mal den Kindergottesdienst besuchte, weiß ich nicht mehr, nur dass ich jeden Sonntagvormittag mit meinen jüngeren Geschwistern quer durch die Stadt zum Kindergottesdienst in der Barfüßerstraße lief. Am Anfang wurde ein Lied gesungen, Gott ist die Liebe, Wach auf mein Herz und suche Freud, In der Welt ist’s dunkel und viele andere. Dabei begleiteten uns Reinhard oder Paul-Gerhard K. am Harmonium. Dann sprach Tante Gertraud ein Gebet und anschließend erzählte sie eine Geschichte aus der Bibel. Wir hörten gespannt zu. Meistens las ich zuhause die Geschichte noch einmal. Allmählich kamen so viele Kinder, dass wir in zwei Gruppen aufgeteilt wurden.Tante Elisabeth unterrichtete erst die Großen, zu denen ich gehörte, dann tauschte sie mit Tante Gertraud. Nach der Sonntagsschule sprachen wir Kinder miteinander. Ein Mädchen erzählte von einem Konzertlager, in das die Juden und die Kommunisten gesperrt wurden. Etwas Genaues konnten wir uns nicht vorstellen. Einmal stieß ich auf dem Weg in den Kindergottesdienst mit der Stirne an eine Ecke des Briefkastens an der Wand des Gasthauses Grüner Braun und bekam eine Beule. Die Barfüßerstraße lag in einer besseren Gegend in der südlichen Stadt. Wir wohnten in der Nordstadt im Arbeiterviertel. Obwohl es nur zwanzig Minuten zu Fuß waren, war dort eine andere Welt. Hinter der Wandelhalle und dem Prinzenteich lag das Villenviertel und durch das Mariental ging es zur Wartburg. In den Siebziger Jahren habe ich mich von meinem Glauben verabschiedet, obwohl meine Mutter mich warnte, ich würde in der Verdammnis landen. Nach der Wende traf ich in Berlin in einem Workshop eine Tochter des Bankdirektors. Sie trug noch ihren Mädchennamen. Sie lehnte mich ab, weil ich sie an ihre Kindheit und ihre christliche Familie erinnerte.
Liebe Nila E. Sebastian,
vielen Dank für Ihre Geschichte. Ich finde sie auch deshalb wichtig und interessant, weil sie zeigt, was bei allen aktuellen Diskussionen um den Islam immer wieder vergessen wird: dass auch das Christentum fundamentalistische Strömungen kennt, auch hierzulande. Und es gibt sie nach wie vor.
Autorin