Wenn man sich etwas vorgenommen hat, sollte man das auch durchziehen. Ich habe mir vorgenommen, mir mehr Zeit für Schönes zu nehmen, gelassener und spontaner zu werden. Darum schlug ich an einem Samstagmorgen im Frühsommer die Augen auf und sagte:
„Wir machen heute eine Radtour und zelten.“
Mein Mann: „Aber es ist schon halb elf. Und wir haben noch nicht gepackt.“
Ich: „Na und? Wir fahren mit der Bahn an den Stadtrand, das verkürzt die Strecke.“
Mein Mann: „Aber das Wetter soll schlechter werden.“
Ich: „Auf die Sonne im Herzen kommt es an.“
Mein Mann: „Aber wir müssten heute einkaufen, wir haben null Proviant.“
Ich: „Brauchen wir nicht, bei Bedarf können wir unterwegs etwas kaufen, wir radeln durch Schleswig- Holstein, nicht durch Sibirien. Ich habe mir vorgenommen, die Dinge spontan und locker anzugehen, und fände es nett, wenn du mich dabei unterstützen würdest.“
„Na dann“, sagte mein Mann.
Um 13 Uhr waren wir abfahrbereit. Unser Proviant bestand aus einer Flasche Wasser und einer Packung Reiswaffeln. Wir fuhren Richtung S-Bahn, auf dem Weg dorthin fielen dreimal die Isomatten von meinem Gepäckträger, weil wir keine Zeit gehabt hatten, genug Gepäckriemen zu besorgen.
Wir fuhren von der einen S-Bahn- Station zu einer anderen, wo wir in Richtung Stadtrand umsteigen wollten. Die S-Bahn Richtung Stadtrand fuhr uns vor der Nase weg, die nächste sollte in einer halben Stunde kommen. Nach einer halben Stunde kam ein Mann und sagte, es käme keine S-Bahn mehr, stattdessen gäbe es einen Schienenersatzverkehr, aber im Bus könnten wir die Räder nicht mitnehmen.
Wer sich Zeit zum Fahrplanstudieren nimmt,
ist nicht spontan
Das hätten wir wissen können, wenn wir den Fahrplan studiert hätten, aber wer sich Zeit zum Fahrplanstudieren nimmt, ist nicht spontan. Wir verließen die S-Bahn- Station. Der Stadtteil, in dem wir uns befanden, gehört zu den tristen Ecken Hamburgs. Es nieselte. Es war viertel vor drei. Unsere Tochter sagte: „Ich habe Hunger.“ Wir fuhren mit dem Rad zum Stadtrand, wir fuhren unter grauem Himmel über graue Ausfallstraßen durch graue Randstadtteile und aßen graue Reiswaffeln.
Alle halbe Stunde fiel irgendetwas von irgendeinem Gepäckträger. Ich dachte darüber nach, dass manch Sitte unserer Ahnen – zum Beispiel die, vor Kurzreisen zumindest ein paar grundlegende Vorbereitungen zu treffen – nicht so sinnlos ist, wie man zuweilen glauben möchte.
Eine Stunde später hatten wir den Stadtrand erreicht, drei Meter hinter der Stadtgrenze sagte unsere Tochter: „Müssen wir noch lange fahren?“ – „Nur noch 60 Kilometer“, sagte ich. In den Dörfern, die wir durchradelten, fanden wir keinen einzigen Gasthof oder Supermarkt.
In Süddeutschland gibt es in fast jedem Dorf ein Gasthaus, dagegen scheinen die meisten Dörfer im Norden zu Vorstädten nächstgelegener Städte verkümmert zu sein, in denen man zwar wohnt, aber nicht einkaufen oder essen geht. Die Dörfer lagen da wie Dornröschen: schön, aber leblos.
Mein Po fühlte sich an, als hätte ein Kampfhund
sich darin verbissen
Um acht kamen wir am Campingplatz an, er lag in einem Dorf an einem See. Wir waren fast verhungert. Der Platzwart sagte, der nächste Gasthof befinde sich in der nächsten Stadt, sechs Kilometer entfernt. Wir bauten das Zelt auf, setzten uns wieder auf die Räder, mein Po fühlte sich an, als hätte ein Kampfhund sich darin verbissen, nur mein Hunger war größer als der Schmerz.
Wir fanden einen Gasthof. Ich aß Wildschweinsteak mit Pfifferlingen, selten hat mir etwas so gut geschmeckt. Zwischen mondbeschienenen Feldern fuhren wir über einsame Landstraßen zurück zum Zelt. Die Luft war mild, Grillen zirpten. Das sollte man öfter machen, dachte ich: einfach losfahren, irgendwo unterwegs wird man den einen Augenblick finden, für den sich der Weg lohnt. Fährt man allerdings durch Norddeutschland, sollte man mehrere Packungen Reiswaffeln dabei haben.
Brigitte 21/2008